Wallonien
Glas- und Kristallerzeugung in der Wallonie
Eva Mendgen
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Wallonien war mit den Regionen Namur und Lüttich (Seraing), sowie Hennegau (Charleroi, Mons) eines der wichtigsten Zentren der europäischen Glasindustrie. Zu ihren besten Zeiten, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, exportierte die wallonische Glasindustrie 85% ihrer Produktion und beschäftigte etwa 33 000 Menschen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts spielt die Glasindustrie in Wallonien trotz – oder wegen – des tiefgreifenden Strukturwandels immer noch eine große Rolle in der belgischen Wirtschaft und vermehrt auch in der Kulturgeschichte des Landes. Produktionsschwerpunkte waren Luxusglas (Kristallglas, geblasen und gepresst), Flachglas (Fensterglas) und Gebrauchsglas (Trinkglas und Flaschen). |
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Anfänge Die Glasindustrie entwickelte sich hier seit dem Ende des 15. Jahrhunderts mehr oder weniger kontinuierlich. In den reichen Regionen Namur und Lüttich spezialisierte man sich im Laufe der Zeit auf die Fabrikation von Luxusglas (Kristallglas ab dem 19. Jahrhundert), im Becken von Charleroi auf Fensterglas bzw. Flachglas. |
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Glas und Kohle Für jene Zeit sind etwa 20 Glashütten in Wallonien nachgewiesen, im 19. Jahrhundert waren es alleine in der Region Charleroi schon etwa 100. Belgien besaß damals die meisten Glasöfen in ganz Europa. Im 18. Jahrhundert konkurrierte man zunehmend mit der deutschen und vor allem aber der englischen Glasindustrie, die mit einem neuen Produkt, dem Kristallglas, den Markt eroberte. |
Kristallglas Seine Erfindung entfaltete aber erst ab dem 19. Jahrhundert in der Region Namur mit der Glashütte Vonêche (1802 – 1830) und ab 1825 mit der Gründung der Glashütte Val Saint Lambert in Seraing bei Lüttich ihre volle Wirkung – in Kombination mit Wissenstransfer aus Saint-Louis-lès-Bitche im lothringischen Bitscher Land. |
Wissenstransfer D’Artigues hatte die erste französische Cristallerie in Saint-Louis-lès-Bitche geleitet, dann die Glashütte im damals französischen Vonêche zur Cristallerie ausgebaut und jene in Baccarat (Lothringen) erworben. Künftig standen diese ersten großen, industriell betriebenen Kristallglashütten in regem Austausch bzw. in Konkurrenz. Die Bestimmung der Glasprodukte (z.B. Trinkgläser, Trinkservices, Vasen) auf ihre Herkunft ist meistens ausgesprochen schwierig. |
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Kapitalisierung Eigentümer war die "Société Générale de Belgique", die die Aufgabe hatte, die öffentliche Infrastruktur auszubauen (Straßen, Eisenbahnen, Kanalbau) und die Industrie planmäßig zu entwickeln. Diese Kapitalgesellschaft erwarb auch die Cristallerie Val Saint Lambert in Seraing, die 1879 wieder unabhängig wurde und die bedeutenden Hohlglashütten (Glas und Kristallglas) der Nachfahren Zoudes in der Region Namur (Jambes, Herbatte), sowie im Maastal (Jemeppes-sur-Meuse) erwarb. Mit ca. 5 000 Beschäftigten um 1900 war dieses Unternehmen das größte seiner Art. |
2) Katalog Flaschenglas, Jumet, frühes 20. Jh., Musée du Verre, Charleroi |
Art Nouveau und Art Déco Mit Hilfe von Künstlern und Designern wie den lothringischen Brüdern Muller wurden neue, künstlerisch, technisch und handwerklich anspruchsvolle Produkte, die das Savoir-faire des Unternehmens ins rechte Licht rückten, auf dem internationalen Markt platziert. Der französische Grafiker Léon Lédru war 1897 – 1935 Leiter des Dekorationsateliers. Unter Lédru erlebte das Unternehmen vor dem 1. Weltkrieg und in den 1920er und 1930er Jahren den Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens. Formschönes, über Generationen gültiges Design, das die Kristallglasprodukte aus Val Saint Lambert auszeichnete, wurde nun durch Kunstglas im Stil des französischen und belgischen Art Nouveau und des belgischen Art Déco überhöht.
Flaschen- und Tafelglas Im 20. Jahrhundert ermöglichte das "Tafelziehverfahren" des Industriellen und Ingenieurs Emile Fourcault und des Ingenieurs Emile Gobbe eine Mechanisierung der Tafelglasproduktion. 1902 erprobten sie ihre Erfindung erstmals im Werk in Damprémy bei Charleroi. In den Glashütten in Sulzbach und St. Ingbert im Saargebiet, das damals von der französischen Wirtschaft abhängig war, wurde das Tafelziehverfahren nach Fourcault 1922 zum ersten Mal im Lizenzverfahren angewendet und fortan erfolgreich praktiziert. |
Mechanisierung Die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre führte zu weiteren Schließungen bzw. Konzentrationsprozessen: Die "Union des Verreries Mécaniques de Belgique" (UNIVERBEL) gründete sich 1930, und 1931 schlossen sich weitere Industrieglashütten par zur "S. A. Glace et Verre" (GLAVER) zusammen, zwei Konzerne, die 1961 unter dem Namen GLAVERBEL fusionierten. |
Heute Sowohl in Charleroi (Institut Scientifique du Verre) als auch in Lüttich (Université de Liège ) ist das Material Glas auch im 21. Jahrhundert Gegenstand moderner naturwissenschaftlicher Forschung. In Val Saint Lambert wird nach wie vor Kristallglas im Manufakturbetrieb produziert; auch wenn Anfang 2009 hier gerade noch 60 Personen beschäftigt sind, setzt man auf eine positive Entwicklung. |
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Forschung Leider gibt es bis heute keine umfassende wissenschaftliche Gesamtdokumentation der wallonischen Glasindustrie, ihrer Kultur-, Sozial- oder Wirtschaftsgeschichte. Die alten Glashütten sind, wie anderswo auch, abgerissen, von anderen Industrien überlagert. Eine eindrucksvolle Ausnahme ist Val Saint Lambert. Heute ist die Kristallerie mit ihren historischen, denkmalgeschützten Gebäuden ein Ort, an dem der Besucher einen Einblick in den Manufakturbetrieb bekommt. Außerdem befindet sich am Ort ein modernes Unternehmensmuseum. Die Firmenarchive befinden sich im Corning Glass Museum im New York State/USA, wo überhaupt viele Dokumente zur Erforschung der Glasgeschichte der Großregion aufbewahrt werden. Was nicht einer gewissen Logik entbehrt: Immer wieder wanderten Glasmacher aus der Großregion in die USA aus. |
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Museen Grundlage ist jeweils eine große Privatsammlung. In Marcinelle und Namur verweisen außerdem Sammlungen römischen Glases (Grabfunde) auf die weit zurück liegenden Ursprünge der Glasmacherkunst in der Großregion. |
Musée du Verre
Site du Bois du Cazier Rue du Cazier, 80 B-6001 Marcinelle |
Musée du Verre Quai de Maestricht, 13 B-4000 Liège |
Musée archéologique Halle al’Chair 21, rue du Pont B-5000 Namur |
Chambon, R. 1955: Histoire du verre en Belgique du IIème siècle à nos jours. Brüssel
Engen, L. & J. Alenus-Lecerf 1989: Le Verre en Belgique des origine à nos jours. Fonds Mercator, Anvers
Kremer, C. und A. Pluymaekers 2007: Val Saint Lambert, 180 ans de savoir-faire et de création. Brüssel
Corning Glass Museum, New York State